Oktober 2007

Bernsteins Candide oder
Die Welt ist vielleicht doch nicht schön


                                                            
             I am everything I need.
                                                                       Life is happiness indeed.



Das Leben ist perfekt - oder vielleicht doch nicht?
Ansichtssache sagen Sie jetzt vielleicht, oder “mal so, mal so”.

Nun ja, selbst der größte Verteidiger der real existierenden Welt würden nicht sagen, sie sei perfekt. Im 18. Jahrhundert gab es dazu auch wenig Grund. Und doch behaupteten einige, die Welt sei gut, so wie sie ist: Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz etwa. Wir lebten, lehrte er, in der “besten aller möglichen Welten”.

Diese “Welt ist doch schön”-Thesen konnten natürlich nicht unwidersprochen bleiben. Voltaire schrieb den Roman “Candide oder der Optimismus”.

Candide bedeutet “weiß”, “unschuldig”, aber auch “aufrichtig”. Und Candide, der Romanheld. glaubt aufrichtig, was ihm da               Dr. Pangloss (also Leibniz) einbleut: Dies sei die beste aller möglichen Welten, alle Dinge fügten sich zum Guten. Voltaire weiß natürlich, wie gern wir so etwas glauben. Also lässt er seinen Helden (und uns Leser) nicht nur durch eine Hölle fahren. Candide und seine Begleiter müssen Krieg, Vergewaltigung, Erdbeben, Ketzerverbrennung, Schiffbruch, Piraten, Bankrott,  Folter, Sklaverei, Gefängnis und Diktatur er- und überleben. Dass ihnen letzteres überhaupt gelingt, ist nicht dem richtigen Leben, sondern nur dem Autor zu verdanken (Autor = Schöpfer). Pangloss hält unerschütterlich an seinem Glauben fest. Candide beschliesst am Ende, den Garten zu bestellen.

Der Roman erschien 1759. Er ist eine Satire auf Leibniz, auf den Staat, vor allem auf die Kirche. Er ist aber auch eine Satire auf jene Abenteurergeschichten, bei dem sich der Held aus jeder Katastrophe herauswindet. Candide wurde in Genf verbrannt, in Paris verboten und vom Vatikan auf den Index gesetzt. Gedruckt und gelesen wurde er natürlich trotzdem.

Am Musiktheater ging Candide 200 Jahre vorbei, bis 1950. Es ist die McCarthy-Zeit in den USA. Die Zeit, in der jeder, der nicht ganz auf Linie ist, sehr schnell als Kommunist gilt. Die Zeit, in der der kalte Krieg sich leicht in einen heißen verwandeln kann. Die Zeit, in der Lillian Heilman dem Komponisten Leonhard Bernstein den Roman als Musicalstoff schmackhaft macht. Hellmann hatte Erfahrung mit McCarthy. Ihr Mann saß sechs Monate im Gefängnis, Sie selbst wird vor den berüchtigten Ausschuss zitiert, weigert sich aber andere zu belasten: “Ich kann und will mein Gewissen nicht passend schneiden für die Moden dieses Jahres”. Das könnte Voltaire sein. 1956, ziemlich genau zu Ende der McCarthy-Ära, kommt das Musical “Candide” am Broadway heraus und erlebt 73 Vorstellungen.

Man kann es gar nicht oft genug sagen: Bernsteins Musik für Candide ist hinreißend. Es ist musikalische Satire vom Feinsten. Pangloss plappert seine Lektionen daher wie ein schlechter Prof., der Chor preist mit einem Choral Westfalen, der Traum vom friedlichen Landleben bekommt eine ironische Orchester-begleitung verpasst, die Ketzerverbrennung ist eine Satire auf die “Grand opéra”. Aber der Traum vom besseren Leben schimmert auch musikalisch durch. Die Sehnsucht des Menschen wird nicht negiert, sie wird ernst genommen.

Aber man muss leider auch sagen: dramtaurgisch ist das Stück problematisch. Eine Aneinanderreihung von Katastrophen ist nur bedingt bühnentauglich.

Und so begann sofort nach der Broadway-Uraufführung das Herumschnipseln. Für jede neue Aufführung wurde geändert, gekürzt, dazugefügt und neu instrumentiert. Am 13. Oktober 1982 gab es die letzte Fassung, mit der Bernstein unzufrieden war. “Dieser Candide war zu einem einzigen Jux geworden. Das Herz, die Tränen und die Zuversicht - alles deutliche Motive für Voltaire, Candide zu schreiben - waren in keiner der Fassungen wiederzufinden, die nach Lillian Hellman entstanden. Auch die Musik war völlig aus der Ordnung geraten”, so John Mauceri, der Orchestrator.

Bernstein liebte seinen Candide. 1988, 32 Jahre nach der Uraufführung, erstellte er die nun wirklich endgültige Fassung. 1989 spielte er Candide mit dem London Symphony Orchestra ein. Nur ein Jahr später starb er.

Die Theater hätten also eine wunderbare moderne Oper. Operette? Musical? Sie müssten nur zugreifen. Leider tun sie das selten. Ist das Stück zu sehr Broadway? Ist es dramaturgisch zu schwierig? Vermutlich ist das Stück einfach zu aktuell. Vermutlich geht es uns nicht anders als den Menschen im 18. Jahrhundert. eir möchte sich die Welt nicht schönreden. Voltaire hat leider Recht behalten. Leibniz aber hat immer noch Unrecht.

© Friedrich Kern









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Illustration aus der ersten Candide-Ausgabe