Kluge Fragen sind besser als schlechte
                                                           Antworten. Die Inszenierung von
                                                          "La Juive" bietet keine Lösungen.



Welches Bild machen wir?


“Grand Opera” - Große Oper, das ist das Musiktheater des            19. Jahrhunderts. Vorläufer sind die Revolutions- und Schreckensopern, letzte Spuren finden sich noch bei “Moses und Aron” von Schönberg. “Grand opera”, der Begriff kann leicht in die Irre führen. Der Aufwand, der betrieben wurde, war tatsächlich groß: Ballett, Chor, große Bühnenbilder und “Special effects” gehörten dazu. Aber die Musik will den Hörer keineswegs permanent überwältigen. Das Orchester ist längst nicht so riesig wie bei Wagner oder Strauss, die Höhepunkte sind eher kurz und prägnant, es gibt lange kammermusikalische Passagen. Die “Grand opera” ist nicht so einfach zu “konsumieren” wie es zunächst scheint. Sie fordert den aufmerksamen Hörer.

Das alles hatten Jossi Wieler und Sergio Morabito wohl im Hinterkopf, als sie nun “La Juive” (“Die Jüdin”) an der Stuttgarter Staatsoper herausbrachten. Das Erfolgswerk, komponiert von Fromental Halévy nach einem Text von Eugène Scribe, wurde 1835 in Paris uraufgeführt. Die Geschichte spielt während des Konzils in Konstanz 1414. Es geht um Hass zwischen Christen und Juden, um den Konflikt zwischen Glauben und privaten Glück. Opfer des religiösen Fanatismus werden am Ende fast alle Figuren: "Der Jude Éléazar” ebenso wie seine (vermeintliche) Tochter Rachel, Prinz Léopold ebenso wie Kardinal de Brogni. Man kann das Stück, vor allem bei entsprechenden Kürzungen, antisemitisch wenden. Auf der anderen Seite wurde es auch als “Verherrlichung des Judentums” angesehen.

Ein schwierige Terrain also. Wieler und Moribato versuchen sich erst gar nicht an einer “eindeutige” Interpretation, sie brechen das Stück. Nicht ohne viel bittere Ironie gehen sie der Biographie von “La Juive” nach, aber auch den Erwartungen von uns Zuschauern. Ist das Orient-Ballett mit den Kindern der John Cranko Schule nicht allerliebst? Ja, das ist es, aber es stammt aus der imperialistischen Epoche: Mit dieser Oberflächlichkeit blickten (blicken vielleicht noch immer) die Europäer überlegen auf den Rest der Welt. Welches Bild machen wir - von uns, von dieser Oper, von Juden, von Christen, vom Orient, von “den” anderen? Wie gehen wir mit den Bildern um, wie prägen sie? Die Inszenierung kreist um diese Fragen. Die Menge auf der Bühne spielt Historie, spielt Konzil, aber Maskaraden legen auch Wünsche frei, die sonst verborgen bleiben. Im letzten Akt verkleidet sich die Menge als Juden, als Juden auf dem Weg zum KZ. Ein schauriges Bild, eines mit historischen Hintergrund. Tatsächlich gab es solch einen Zug an der Konstanzer Fasnacht 1937. Doch wer weiß so etwas? Kluge Brüche überall, aber die Gefahr von Mißverständnissen schwingt da immer mit. Die Bühne von Bert Neumann wirkt zunächst wie Faller-Modelleisenbahn, links der Eingang zu Kathedrale, rechts das Haus Éléazars - Fachwerk. Wird das Ganze gedreht, ist nur noch das Holzgerüst zu sehen. Am Ende, kurz vor der Hinrichtung Éléazars und Rachels sieht man einen Fußgängerzonen-Weihnachtsstern - ein Sieg des Christentums? Trotzdem: Die Inszenierung provoziert nicht billig - sie beunruhigt. Kluge Fragen sind allemal besser als schlechte Antworten. Nach dem überraschenden Schluss schweigt das Publikum erst einige lange Sekunden irritiert und verstört, bevor der Applaus einsetzt. Ein schöner Beweis wie das Musiktheater die Gedanken in Unordnung bringen kann. 

Wenn es um die Einzelfiguren geht, arbeiten Moribato und Wieler leider nicht immer so genau und überlegt. Zudem sind nicht alle Sänger überzeugend. Ferdinand von Bothmer als Léopold quetscht die hohen Töne so, dass es wehtut. Darüber vergisst man beinahe, wie schön lyrisch er in der Mittellage singt. Chris Merritt als Éléazar, ebenfalls eine Tenorrolle, überzeugt zunächst mit Stimme und Spiel.  Man spürt: Er hat sich intensiv mit der Rolle befasst, an ihr gearbeitet. Bei seiner großen Arie im vierten Akt leidet man dann allerdings weniger mit der Figur, als mit dem Sänger. Man fürchtet, er wird nicht durchhalten. Hoffentlich war es nur das “Premierenfieber”. Kardinal de Brogni wird von einem Chinesen gespielt. Das ist zum Anschauen etwas irritierend, passt aber beinahe ins Regiekonzept. Liang Li gibt ihn mit einem sonorem Bass. Am überzeugensten sind die beiden Sängerinnen: Catriona Smith ist eine auch stimmlich flotte Prinzessin Eudoxie. Sie singt und spielt die Rolle, als hätte sie sich diese selbst auf den Leib geschrieben. Eher ein stiller Star ist Tatiana Pechnikova in der Titelrolle. Sie kann alle Trauer, alle Furcht, alle Hoffnung und alle Liebe mit ihrer Stimme allein ausdrücken.  Der Chor ist wie immer überzeugend. Sébastian Rouland folgt am Dirigentenpult der Inszenierung. Kein Auftrumpfen, kein unnötiger Pomp: Farbig wird das Orchester vor allem an den kammermusikalischen Stellen. Bei aller Differenzierung: Etwas mehr Schwung, einen Impuls, der auch über 5 Stunden (mit Pausen) gut trägt, wünscht man sich. Nur dann kann ein Opernhaus mit der (fast) vollständigen Fassung von “La Juive” wirklich überzeugen. Denn bei der Länge trifft das Wort “grand” zweifellos.

Wenn es noch hätte bewiesen werden müssen: “La Juive” gehört wieder auf die Bühne, von der sie die Nazis vertrieben haben. Und ein Besuch der Aufführung lohnt sich - trotz Einschränkungen. Auf die Fortsetzung der “Grand Opera”-Serie in Stuttgart darf man gespannt sein.

© Friedrich Kern








Fromental Halévy
La Juive

Musikalische Leitung: Sébastien Rouland
Inszenierung: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Nina von Mechow

Staatsoper Stuttgart
Besuchte Vorstellung: 16. März 2008
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