Grünes Männchen,
                                                                                         gute Sänger



Eine Stehlampen-Tragödie


Nein, eine spanische Carmen konnte am Stuttgarter Opernhaus unter dem neuen Intendanten Albrecht Puhlmann wirklich niemand erwarten. Doch das kann nicht der Grund sein für die vielen Buhs, die auf das Regieteam niedergingen und die die Bravo-Rufe hörbar überwogen. Schließlich ist das Stuttgarter Publikum durchaus an unkonvetnionelle Sichtweisen gewöhnt. Puhlmann hatte es riskiert - riskiert ist das richtige Wort nach den Erfahrungen der letzten Jahre - seine erste Produktion einem Schauspielregisseur ohne Opernerfahrung anzubieten. Sebastian Nübling bekannte denn vorher auch ziemlich frei seine Schwierigkeit. Etwa damit, dass die Zeitdauer der Szenen durch die Musik festgelegt ist. Und man kann nur sagen: Dies merkt man.

Nüblings Grundfrage ist: Warum kann Don Jose Carmen nur lieben, wenn sie tot ist? Wer nun denkt, die Frage werde beantwortet, diese gewagte Behauptung bewiesen, wird bitter enttäuscht. Wenn der Vorhang aufgeht, sitzt Jose in einem abgewetzten Sessel, in einem dunklen Raum, ein heruntergekommenes Hotel vielleicht. Neben ihm eine Stehlampe, vor ihm ein Fernseher und - die tote Carmen. Man versteht schnell: das ganze Geschehen findet noch einmal in Joses Kopf statt. Dazu muss die tote Carmen natürlich erst einmal wieder aufstehen. Allerdings wird Jose sie gegen alle medizinische Logik an diesem Abend gleich mehrmals töten. Eine Entwicklung gibt es nicht. Jose ist eben so. Punkt.

Wäre das am Schlimmen genug, man könnte einfach der Musik lauschen. Aber Nübling setzt noch zwei Dinge drauf: Einmal verwendet er den Chor, mit dem er offensichtlich rein gar nichts anfangen kann (schade bei dieser Musik und diesem Chor) dazu, alle Hauptpersonen zu vervielfachen: Also sehen wir plötzlich viele Carmens, viele Michaelas, viele Escamillos und viele Don Joses. Das ist weder eine besonders originelle Idee, noch trägt es irgend etwas zum Verständnis bei. Zweitens tobt fast die ganze Zeit ein kleines grünes Männchen über die Bühne, vielleicht Joses Trieb, vielleicht sein schlechtes Gewissen, laut Nübling die dunkle Seite Joses. Wozu eigentlich, wenn er in dieser Regie nicht einmal eine helle hat? Das kleine grüne Männchen ist auch eine Art Spielleiter und verbraucht bei seinem Marathon die  Bewegungsenergie, die den übrigen Darstellern entzogen wird. Die sitzen oder stehen nämlich die meiste Zeit – vom Regiekonzept eingezwängt – herum. Und so schleicht sich im Laufe des Abends etwas ein, was man gerade bei Carmen nicht erwartet: Rampensingen. Damit das nicht auffällt, werden reichlich Sessel und Stehlampen (auch sie verdoppelt) auf der Bühne hin- und hergetragen.

Wer es dennoch schafft, die Inszenierung zu ignorieren (aber welcher Zehelein-erprobte Zuschauer schafft das noch?), kann eine musikalische Interpretation auf hohem Niveau hören. Bei den Sängern beweist Will Hartmann Weltklasse. Bei diesem Tenor ist nichts Gepresstes und Angestrentes, die Stimme strahlt und ist doch gleichzeitg geschmeidig. Das Publikum kann Puhlmann dankbar sein, diesen Tenor mitgebracht zu haben. Überzeugen kann auch Karine Babajanian in der Titelrolle, die bei dieser Mezzosopran-Rolle auch in der Tiefe keine Schwierigkeiten hat. Ihre Stimme hat die verführische Ausstrahlung, die die Partie braucht. Lyrisch-schmelzend dagegen Ina Kancheva als Michaëla. Einzig Vincent Le Texier als Escamillio hat zwar eine kräftige Stimme doch Schwierigkeiten mit der Genauigkeit. Dass der Chor (Einstudierung Michael Alber) wieder eine Glanzleistung hinlegte, versteht sich in Stuttgart inzwischen fast von selbst, ist aber natürlich keine Selbstverständlichkeit. Jedes Mal ist man wieder auf neue erstaunt, wie kräftig und gleichzeitig expressiv dieser Chor agieren kann. Bleibt noch Julia Jones am Dirgentenpult. Sie scheut sich nicht vor den Leidenschaften der Musik, dirigiert vom ersten Ton an schwungvoll, doch durchsichtig, die Feinheiten sind zu hören, zumal bei den kammermusiklaischen Stellen. Und wie heute üblich: die einzelnen Klangfarben werden herausgearbeitet.

Was also bleibt von diesem Einstand? Man hat das Gefühl, Nübling hätte das Stück, wie heute im Schauspiel üblich, am liebsten  erst zerschlagen und dann wieder zusammengesetzt. Sollte das die Richtung sein, in die Puhlmann will, muss man Schlimmes befürchten. Auf die neuen Sängerinnen und Sänger in Stuttgart aber darf man sich wohl freuen.

© Friedrich Kern









Staatsoper Stuttgart
George Bizet
Carmen

Musikalische Leitung: Julia Jones
Inszenierung: Sebastian Nübling
Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner

Staatsoper Stuttgart
Besuchte Vorstellung: 22. Oktober 2006
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