Englischer Text. Koreanische Komponistin.
                                                           Inszenierung leider sehr deutsch.



Alice im Lach-Nicht-Land


“Achim Freyer inszeniert eine Oper”, das hätte wohl über den meisten Kritiken dieses Abends stehen können. Da konnte man schon den Eindruck bekommen, die Musik sei Nebensache. Das war sie natürlich nicht, immerhin handelte es sich um eine Uraufführung. Das störte die inszenierungszentrierten Kritiker nicht im geringsten. Einer von ihnen beschäftigt sich lang und breit mit der Regie und fährt dann fort mit: “Dazu hat Chin eine Musik geschrieben ...” Dazu? Man stelle sich so eine Formulierung einmal bei Wagner oder Mozart vor.

Wie also ist sie nun, die Musik, mit der die koreanische Komponisten Unsuk Chin “Alice im Wonderland” von Lewis Caroll vertont hat? In sich geschlossen, langweilig, illustrativ, an Film und Musical angelehnt, wie die Kritiker meckerten? Alles nicht ganz falsch, außer dem Begriff “langweilig”, und doch nicht treffend. “Passend” wäre der richtige Ausdruck. Passend für eine Vertonung des Stoffes, die nicht viel mehr will als die Geschichte musikalisch zu dramatisieren. Das Libretto stammt dabei von der Komponistin und David Henry Hwangh. Die Handlung wurde gekürzt, sonst aber 1:1 übernommen. Nur am Anfang und am Schluss wurde jeweils eine moralisierende Szene hinzugefügt, auf die man gut hätte verzichten können.

Chin folgt dem Text: Wenn die Raupe auftritt, gibt es ein Solo der Bassklarinette (wunderbar: Stefan Schneider), das sich in schönster “Rhapsody in Blue”-Manier dahinschlängelt. Wenn im Text ein Kinderlied steht, gibt es ein Kinderlied. Spielt der Hofstaat verrückt, hört mein ein Cembalo. Und wenn am Ende die Herzkönigin auftritt, gibt es natürlich einen Rückgriff auf die großen Operndiven des 19. Jahrhunderts.

Das alles klingt nach zweitrangiger Zitat-Technik, aber das ist es nicht. Davor bewahrt Chin schon ihr kompositorisches Handwerk, das sie perfekt beherrscht. Da ist tatsächlich kaum eine Note zuviel, wie es ihr Mentor Kent Nagano preist. Die Zitate selbst sind geschickt und oft überraschend verbunden. Zudem weiß Chin, wie man Spannung aufbaut und wie man Abwechslung erreicht. Vor allem: Sie hat eine enorme Klangphantasie, jenseits aller Ideologien. Was sie mit dem Riesenorchester anstellt, ist schlicht atemberaubend, beinahe süchtig machend. Wie Caroll mit seiner Phantastik der Sprache und Bilder den Leser, so zieht Chin mit ihren Klängen den Zuhörer ins Geschehen hinein.

Sängerisch war der Abend auf sehr hohem Niveua. Eigentlich müsste hier jeder einzelne Sänger genannt werden, drei sollen es hier sein: Sally Matthews als staunende wie erschreckte Alice überzeugt mit einem lyrischen Sopran. Dieter Henschel gibt den überdrehten Hutmacher, eine rhythmisch nicht ganz einfache Partie. Gwyeneth Jones singt und spielt die Herz-Königin mit aller nötigen satirischen Übertreibung. Sie tut das mit einer Wucht als sei der Geist sämtlicher Primadonnen in sie gefahren. Kent Nagano leitet das Staatsorchester um- und durchsichtig. Ihm kommt es hörbar darauf an, die Partitur so umzusetzen, wie sie geschrieben ist.  Dass das Orchester die Musik nicht in gleicher Weise verinnerlicht hat, wie Strauss oder Wagner, merkt man an einigen Stellen. Doch das kann von einer Uraufführung kaum erwarten. Und es tut der insgesamt guten Leistung keinen Abbruch.

Dazu, ja dazu nun hat Achim Freyer eine Inszenierung geliefert, die man geradezu kontraproduktiv nennen muss. Angelehnt ist sie ans schwarze Theater, Sänger und Rollen sind getrennt. An der Bühnen-Rampe sitzen die Sänger, alle im Lewis Caroll - Look. Gespielt werden die Rollen - mit Ausnahme von Alice und der Herz-Königin - von Puppenspielern auf einem schrägen schwarzen Bühnenboden. Dieser hat neun Löcher. Vorne in der Mitte steckt Alice, aus den übrigen Löchern kommen die übrigen Figuren. Alice darf sich dabei kaum von ihrem Ort wegbewegen, der Kontakt zu den übrigen Figuren geht gegen Null. Zudem trägt sie eine - wenn auch durchlässige - Maske. So fällt sie als Identifikationsfigur für den Zuschauer weg. Bevor man noch ganz begreift, wer gerade mit wem spricht und was passiert, ist Chins grandiose Musik schon längst wieder weiter.

Schwerer wiegt ein konzeptioneller Fehler von Freyer (aber wohl auch ein Teil der Kritiker und die Dramaturgen). Sie alle fassen “Alice in Wonderland” offensichtlich als ein schweres, tiefgründiges Stück Literatur auf, so als sei es von Kafka oder mindestens von Beckett, Es gehe in der Oper um Identität von Alice, verkündet Freyer. Das ist natürlich ein geradezu blamabler Irrweg. Möglicherweise haben andere Figuren Identitätsprobleme, Alice bestimmt nicht. Aber auch das ist noch alles zu hoch gehängt. “Alice im Wonderland” ist und bleibt in erster Linie ein wunderbar phantasievolles Kinderbuch (ja ein Kinderbuch). Es ist spritzig, leicht, satirisch, weise und human zugleich. Kurz, es ist das, was man im Englischen mit “sophisticated” bezeichnet.  Diese Haltung zur Welt gibt es natürlich schon lange vor Caroll. Sie reicht über Werke wie die “Penauts” bis in unsere Tage. Es ist eine Tradition die in Deutschland nie wirklich Wurzeln schlagen konnte, schon gar nicht bei Regisseuren. Nein, zu Lachen hat man bei Freyer nichts.

Daher also das Mißverständnis. Freyer hat schon vor der Uraufführung verkündet, er könne mit dem Stück nichts anfangen. Und Chin hat ihre Abneigung gegen die Inszenierung  deutlich geäußert. Eine Komponistin hat “Alice im Wonderland” kongenial vertont, der Regisseur hat die Oper nicht verstanden. Bleibt die Hoffnung, dass ein anderes Haus noch einmal zugreift. Lohnen würde es sich: Das Premierenpublikum bedeckte die Komponistin mit reichlich Buhs, in der zweiten und dritten Aufführung wurde Chin gefeiert.

© Friedrich Kern









Unsuk Chin
Alice in Wonderland

Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung, Bühne und Lichtkonzeption: Achim Freyer
Kostüme, Masken und Puppen:
Nina Weitzner

Staatsoper München
Besuchte Vorstellung: 7. Juli 2007
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Bayerische Staatsoper München
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